Rezension: Christian Forstner / Götz Neuneck (Hg.), Physik, Militär und Frieden

Christian Forstner / Götz Neuneck (Hg.), Physik, Militär und Frieden. Physiker zwischen Rüstungsforschung und Friedensbewegung, Wiesbaden: Springer 2018.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Sophia Dafinger, Universität Augsburg.

Eine der vornehmsten Aufgaben der Geschichtswissenschaft ist es, raunender Empörung und haltlosen Behauptungen die Faktizität der Quellen, differenzierte Analysen und ausgewogene Interpretationen entgegenzustellen. Manfred Heinemann tut im hier besprochenen Sammelband „Physik, Militär und Frieden“ das Gegenteil. Im Ton der Anklage montiert er Quellen und das unbelegte Wissen verschiedener Websites zu einer zwischen den Zeilen präsenten Klage über eine vermeintlich unverhältnismäßige „Rache“ der Alliierten an „den Deutschen“, die 1945 begonnen habe und deren Folgen „bis in die Gegenwart“ (S. 71) reichen würden.

Bereits im einleitenden Abschnitt seines überlangen, sprachlich hölzernen Aufsatzes irritiert Heinemann mit der Feststellung, die Alliierten seien von „Wut und Hass gegen die Deutschen“ (S. 70) getrieben worden, als sie versuchten, mit Kriegsende einen Überblick über die Wissenschafts- und Forschungslandschaft des Deutschen Reiches zu gewinnen, technisches Know-how zu erfassen, Wissenschaftler/innen und Techniker/innen anzuwerben und damit sowohl Wissensbestände zu nutzen als auch die deutsche Gesellschaft zu demokratisieren und eine deutsche Wiederbewaffnung auf absehbare Zeit zu verhindern. Heinemann verweist dazu auf ein Roosevelt zugeschriebenes Zitat über die Notwendigkeit, die Deutschen zu „kastrieren“ (S. 71, Fußnote 6 – man fragt sich, woher die Übersetzung stammt), das Henry Morgenthau in einer Tagebuchnotiz wiedergab, die wiederum einer 1968 erschienenen Monographie von John Morton Blum entnommen ist. Die unmittelbar anschließende, ebenso vage wie haltlose und deshalb empörende Behauptung, „[g]esellschaftlich Rache […] zu üben“, sei „individuelles Kriegsziel“ gewesen und habe zu nicht näher spezifizierten „Selbstmorden“ „auf beiden Seiten“ geführt (S. 71), belegt Heinemann nicht.

Leider nimmt Heinemann auch nicht zur Kenntnis, dass die Wissenschaftsgeschichte die Vorstellung, die Migration von Wissenschaftler/innen in ein anderes Land und die Aneignung von Wissen sei ein direkter Innovationstransfer, problematisiert und darauf verwiesen hat, dass Innovation eben stets von den umgebenden Bedingungen abhängig ist. [1] Das hätte ihn vielleicht auch davor bewahrt, das englische Wort „exploitation“ im Text wiederholt mit „Ausbeutung“ (explizit auf S. 70) zu übersetzen und nahezulegen, die Alliierten hätten in den Trümmern des „Dritten Reichs“ „Beute“ (S. 71) gemacht, die insbesondere amerikanischen Innovationen der folgenden Jahre zugrunde gelegen habe (so insb. S. 108). weiterlesen

[1] Siehe etwa Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900-1960, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 52–59.

Empfohlene Zitierweise
Sophia Dafinger: Rezension zu: Forstner, Christian; Neuneck, Götz (Hrsg.): Physik, Militär und Frieden. Physiker zwischen Rüstungsforschung und Friedensbewegung. Wiesbaden  2018 , in: H-Soz-Kult, 31.05.2019, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-30059>.