Doppelrezension – Militärische Gewalt in kolonialen Kontexten

Kamissek, Christoph, Kriegslust und Fernweh. Deutsche Soldaten zwischen militärischem Internationalismus und imperialer Nation (1770–1870). Frankfurt am Main  2018.

Daniel Karch, Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie. Die Kolonialkriege in „Deutsch-Südwestafrika“ und die „Sioux Wars“ in den nordamerikanischen Plains. Stuttgart  2019.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Christin Pschichholz, Institut für Europäische Geschichte, Mainz.

Die Postcolonial Studies und die Diskussion über die Frage, inwieweit sich Kontinuitäten zwischen kolonialer Gewalt und Verbrechen während der NS-Zeit nachzeichnen lassen, hat in der Geschichtsforschung zu vielen kontroversen und produktiven Diskussionen geführt. Inzwischen sind zahlreiche Studien erschienen, die auch ohne den ganz großen Bogen zur NS-Geschichte auskommen und die Kolonialgeschichte des Deutschen Reichs im transnationalen Kontext behandeln. In diesen nun schon nicht mehr ganz so neuen Trend sind auch die zu besprechenden Arbeiten einzuordnen. Den Arbeiten von Christian Kamissek und Daniel Karch ist anzumerken, dass die Autoren die dynamischen Forschungsdiskussionen aufmerksam verfolgen, für ihre eigene Arbeit nutzen und sich darin verorten. Die Umsetzung ist den Autoren, das sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, sehr unterschiedlich gelungen.

Das Buch von Christoph Kamissek Kriegslust und Fernweh. Deutsche Soldaten zwischen militärischem Internationalismus und imperialer Nation (1770–1870) thematisiert die Motivation deutscher Soldaten im 18. und 19. Jahrhundert, die in imperialen Kriegen für die Interessen anderer Nationen kämpften. Da die deutsche Kolonialgeschichte kein exotisches Randgebiet mehr ist, wundert man sich bei dem Thema beinahe, dass es noch niemand vorher bearbeitet hat. Und so betreibt Kamissek eine „Archäologie der deutschen Kolonialgeschichte“, was man wohl in Anlehnung an Jürgen Zimmerers „Archäologie des genozidalen Gedankens“ verstehen soll.[1] Die Einleitung beginnt mit einer kenntnisreichen Zusammenfassung der Forschung und der Herleitung der Fragestellung, wie militärische und mentale Prägungen der Soldaten im Detail verstanden und welche Kontinuitäten im Denken und Handeln deutscher Offiziere durch den Einfluss der Globalisierung des 19. Jahrhunderts beschrieben werden können (S. 9).

Mit Blick auf die Motivation der scheinbar abenteuerlustigen Soldaten und Offiziere folgen vier Hauptkapitel, die zeitlich gegliedert sind: Militärischer Internationalismus im Weltkrieg der Revolutionsepoche (1776–1815), Die preußische „Waterloo-Generation“ zwischen geopolitischer Restauration und militärischem Imperialismus (1815–1835), Informeller Imperialismus: Die Kriegsjugendgeneration der Napoleonischen Kriege und Militärischer Imperialismus zwischen Vormärz und Reichsgründung. Ausgehend von Soldaten und Offizieren der deutschen Staaten, die im Rahmen der sogenannten Subsidienverträge tätig waren, führt Kamissek über Kriegsschauplätze Nordamerikas, des Osmanischen Reiches, des afrikanischen Kontinentes oder des Kaukasus und analysiert hauptsächlich Egodokumente aus Nachlässen, eine kleinere Menge Aktenbestände und zu einem ganz überwiegenden Teil publizierte zeitgenössische Berichte. Besonders die Tätigkeiten als militärische Beobachter und der Vorwand der Soldaten, auch als Forschende fremder Regionen im Einsatz zu sein, brachte eine Vielzahl an Publikationen hervor.

Dem Autor gelingt es in den Hauptkapiteln sehr gut, mit zeitlichen und geografischen Schwerpunkten die höchst unterschiedlichen Kampfhandlungen und Konstellationen inhaltlich dicht abzuhandeln und gleichzeitig seine Kernfragen im Blick zu behalten. Kamissek folgt biografischen Ansätzen, zeichnet Abenteuerreisen sowie koloniale Utopien deutscher Offiziere nach und bettet dies in die Globalisierungsdynamik des 19. Jahrhunderts ein. So unterschiedlich die Kriegskonstellationen waren, die Teilnahme am Krieg blieb bei den Offizieren „in erster Linie intrinsisch motiviert“ (S. 347). Es bestand, so Kamissek, der „Wunsch nach der Teilnahme am militärischen Kampf als solchem“ (ebd.). Dies sei weniger auf Abenteuerlust und Draufgängertum zurückzuführen als vielmehr auf den „verinnerlichten Habitus der sozialisierenden Institution Militär“. Materielle oder ideologische Aspekte spielten nur eine untergeordnete Rolle, allerdings führte die Gewalterfahrung zu einer „Vergemeinschaftung“ einzelner Gruppen innerhalb des Militärs, die unterschiedliche militärische Generationen prägen konnte. Insbesondere in längeren Friedenszeiten verbanden sich die Funktionsbedürfnisse des Militärs mit der Dynamik des globalen Imperialismus des 19. Jahrhunderts und verstärkten sich gegenseitig. Das Phänomen war sicher kein ausschließlich deutsches. Allerdings bestätigt Kamissek mit seinen Ausführungen schlüssig die Besonderheit des deutschen Imperialismus, der sich im wirtschaftlichen Bereich in einer spezifischen Weise mit der Auswanderungs- und Siedlungsfrage verknüpfte, auch aus militärischer Perspektive (S. 348).

Kamissek sieht das Ergebnis der Arbeit auch als Möglichkeit, Isabel Hulls These von spezifischen deutschen Kontinuitäten der „military culture“, die Hull ab 1870 bis zu den nationalsozialistischen Eroberungsplänen nach 1933 nachzeichnet, weiter an ihren Ursprung zurückzuverfolgen.[2] Die letzten Seiten nutzt der Autor entsprechend für das Nachzeichnen weitreichender Kontinuitäten. Dieser Abschnitt, der auch mit kürzeren Passagen in der Einleitung korreliert, ist leider der kleine Wermutstropfen dieser sonst sehr stringenten Arbeit. Hier hinterlässt sie den Eindruck, dass Kamissek bei der Erarbeitung des Themas zunächst einen anderen Zeitraum im Blick hatte. Bereits in der Einleitung wird der im Buchtitel genannte Zeitraum bestätigt bzw. auf die 1880er-Jahre verlängert (S. 19), aber auch noch einmal auf die Zeit „vor den Ersten Weltkrieg“ erweitert (S. 15), um dann Überlegungen zur „Archäologie des kolonialen Gedankens“ im deutschen Militär des 19. und 20. Jahrhunderts zu behandeln. Und so verfolgt Kamissek am Schluss in sehr groben Zügen die erarbeiteten Motive von „Kriegslust und Fernweh“ bis zu Wehrmachtssoldaten. Das ist zwar stärker auf Thesen und Ausblick formuliert, wirkt aber eben doch recht oberflächlich, da die eigentlich empirische Grundlage der Arbeit verlassen wird. Auch archäologische Entdeckungen, um im Bild des Autors zu bleiben, haben doch vor allem den Aussagewert zunächst für den entsprechenden Untersuchungszeitraum. Und Kamissek liefert in den Hauptkapiteln ja auch einen wesentlichen Beitrag zu der inzwischen weit ausdifferenzierten Forschungsdiskussion um Kontinuität und Kolonialismus.

Das ist auch das Ziel der im Umfang fast identischen Arbeit von Daniel Karch mit dem Titel Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie. Die Kolonialkriege in „Deutsch-Südwestafrika“ und die „Sioux Wars“ in den nordamerikanischen Plains. Die Frage von Kontinuitäten kolonialer Gewalt soll in der vorliegenden Arbeit vor allem „anhand eines analytischen, transnational angelegten Vergleichs zweier asymmetrischer, transkultureller Konflikte, im Dienste der Expansion bzw. einer Konsolidierung der Herrschaft, Erklärungen für das historische Phänomen entgrenzter Gewalt gegen indigene Bevölkerungen in vormodernen, staatsfernen Räumen entwickelt werden.“ (S. 50). Im Mittelpunkt steht der Vergleich von Siedlungskolonien, die in der Forschung zu Genoziden und Massengewalt bereits verschieden in den Blick genommen wurden und an deren Beispielen bereits vielfältig die Sinnhaftigkeit des Genozidbegriffs diskutiert wurde. Anders als bei Kamissek gelingt es Karch allerdings nicht, die vielfältigen Forschungsdiskussionen zu bündeln und anhand einer prägnanten Fragestellung einzubinden. Es fällt daher schwer, einen roten Faden in der Arbeit oder eine eigenständige Herleitung einer These zu erkennen.

Karch beginnt seine Arbeit mit Vorbemerkungen zur Terminologie, die eigentlich in der Einleitung gut aufgehoben gewesen wären. Diese wiederum stellt weitläufige Bezüge zur Gewaltforschung her. Eine Erklärung für die koloniale Gewalt soll anhand der im Titel genannten zwei Beispiele gefunden werden und das Wie, als Erklärung für die extreme Gewaltentgrenzung, in den Fokus gerückt werden. Karch möchte dies anhand von „motivationale(n), personelle(n) sowie institutionelle(n) Entscheidungszusammenhänge(n) unter Einbeziehung strukturanalytischer, sozialgeschichtlicher und sozialpsychologischer Herangehensweisen“ vertiefen (S. 50).

Die Auswahl der beiden Fallbeispiele begründet der Autor mit einer möglichen „Konturierung der Ähnlichkeiten und Unterschiede, der Konvergenzen und Divergenzen in zwei diachronen Vergleichs- und Zeiträumen“ (ebd.), bei welchen sich ein gemeinsamer Ursprung und gegenseitige Beeinflussung weitgehend ausschließen ließen. Dabei steht die Arbeit auch in der Tradition des „verstehenden und gleichzeitig distanzierenden Vergleichs, der andere Länder durch den historischen Vergleich mit dem eigenen Land besser zu verstehen versucht“ (ebd.).

Die Studie geht von der Annahme aus, dass die Entgrenzung von Gewalt – gerade in kolonialen Kontexten – zumeist nicht das Ergebnis gezielter Planung war. Entgegen einer rein intentionalistischen Deutung genozidaler Gewalt denkt diese Studie also in den Kategorien von Radikalisierung und Eskalation. Demnach vollzog sich eine Entgrenzung wie in den nördlichen Plains und Südwestafrika nicht geradlinig, sondern in Konjunkturen, die von besonderen lokalen, institutionellen, systemischen und sozialen Bedingungen, von sozialpsychologischen Aspekten und den oft komplizierten Interaktionen zwischen den Gewaltakteuren abhängig waren. Mit Blick auf die Fallbeispiele sollen einzelne, lokale Entscheidungssituationen auf Legitimationsstrategien und Rechtfertigungsdiskurse hin analysiert werden. Die Arbeit sei somit erfahrungsgeschichtlich und „auch sozialpsychologisch ausgerichtet“ (S. 51). Dem eigentlichen Hauptteil ist dann noch einmal ein Kapitel namens „Völkermorde“? Terminologische Grundüberlegungen“ vorgeschoben, in dem der Autor über das Völkerrecht, Raphael Lemkin und die UN Genozidkonvention referiert. Dieses Kapitel endet mit einem Resümee, das erneut den Genozidbegriff problematisiert und auf alternative Konzepte wie etwa von Christian Gerlach sowie Überlegungen von Jan-Philipp Reemtsma und Alexander Korb verweist (S. 85). Spätestens hier kommen deutliche Zweifel an der Arbeit auf, denn ein 30 Seiten langes Kapitel über die terminologischen Grundlagen des „Völkermord“-Begriffs ergibt keinen Sinn, wenn diese Form des Genozidbegriffs für die Arbeit doch gar nicht relevant sein soll.

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Empfohlene Zitierweise
Christin Pschichholz: Rezension zu: Kamissek, Christoph: Kriegslust und Fernweh. Deutsche Soldaten zwischen militärischem Internationalismus und imperialer Nation (1770–1870). Frankfurt am Main  2018 / Daniel Karch: Entgrenzte Gewalt in der kolonialen Peripherie. Die Kolonialkriege in „Deutsch-Südwestafrika“ und die „Sioux Wars“ in den nordamerikanischen Plains. Stuttgart  2019, in: H-Soz-Kult, 27.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26255>.