Philipp Kufferath, Peter von Oertzen (1924–2008). Eine politische und intellektuelle Biografie, Göttingen: Wallstein Verlag 2017.
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Nikolas Dörr, SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen.
Mit „Peter von Oertzen (1924–2008)“ hat Philipp Kufferath eine Biografie über einen Politiker verfasst, der eine wichtige Rolle für seine Partei (SPD) einnahm, aber nie in die erste Reihe der Bundespolitik aufstieg. Umso einflussreicher war er in „seinem“ Bundesland Niedersachsen, wo er unter anderem als Landtagsabgeordneter, Vorsitzender des einflussreichen SPD-Bezirks Hannover und des Landesausschusses der niedersächsischen Sozialdemokraten sowie zwischen 1970 und 1974 im Kabinett von Ministerpräsident Alfred Kubel als Kultusminister amtierte.
Kufferaths Biografie, unter anderem 2018 mit dem Preis für niedersächsische Landesgeschichte ausgezeichnet, ist methodisch in der Historischen Netzwerkforschung und der Intellectual History verortet (S. 29–45). Einem chronologischen Aufbau folgend beschreibt er im ersten Kapitel den Wandel des jungen von Oertzen vom nationalkonservativ geprägten Elternhaus, seiner Schulzeit in der nationalsozialistischen Diktatur und den Kriegsjahren hin zur Sozialdemokratie. Ende des Jahres 1946 trat er der SPD bei, obwohl er in der direkten Nachkriegszeit kurzzeitig mit der CDU sympathisiert hatte (S. 89f.). Ähnlich wie viele andere Politiker seiner Generation, so zum Beispiel Hans-Jochen Vogel, Egon Bahr und Erhard Eppler, wurde auch von Oertzen massiv durch seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und die Teilnahme am Krieg als Soldat der Wehrmacht geprägt (S. 68–87).
Deutlich wird, dass es der junge von Oertzen als vom konservativen Landadel abstammender Akademiker in der sozialstrukturellen Arbeiterpartei SPD der 1950er- und 1960er-Jahre nicht leicht hatte. Dennoch stieg er innerhalb der Göttinger SPD rasch auf. Auch wissenschaftlich machte er schnell Karriere. Nach Studium, Promotion und Habilitation wurde er schließlich 1963 zum Professor für Politische Wissenschaft an der Technischen Universität Hannover berufen. Seine inzwischen deutlich linkssozialistische Haltung manifestierte sich 1959 in der Ablehnung des Godesberger Programms. Er zählte somit zur Minderheit von 16 Nein- gegenüber 324 Ja-Stimmen unter den Delegierten des Parteitags, was seine Sonderrolle innerhalb der Partei unterstreicht. Gleichzeitig offenbarte sich in von Oertzens Gegenentwurf zum Godesberger Programm seine zwischen den Parteiflügeln vermittelnde Funktion, die seine Position innerhalb der SPD für die kommenden Jahrzehnte prägen sollte. Konsequent war in diesem Sinne auch seine – trotz partieller inhaltlicher Übereinstimmung – Ablehnung von Wolfgang Abendroths Gegenentwurf, den von Oertzen als zu dogmatisch empfand (S. 223f.).
Peter von Oertzen gehörte zu dem Typus von sozialdemokratischen Intellektuellen wie Peter Glotz und Gesine Schwan, die aus ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit einen politischen Anspruch ableiteten. Vor allem nach seiner Wahl in den SPD-Parteivorstand 1973, dem er bis 1993 angehörte, avancierte er zu den strategischen Vordenkern der Partei. Willy Brandt machte ihn zum Vorsitzenden der Programmkommission für den Orientierungsrahmen ’85, weil er hoffte, von Oertzen würde als Integrationsfigur die kritischen Jungsozialisten und allgemein den linken Parteiflügel einbinden können. Auch wenn der Orientierungsrahmen ’85 nach seiner Verabschiedung letztlich wenig praktische Konsequenzen nach sich zog, wurde der integrative innerparteiliche Entstehungsprozess unter Führung und Vermittlung von Oertzens als Erfolg betrachtet. Auch in den Folgejahren war er vor allem innerparteilich aktiv, indem er unter anderem das Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie gründete und die Parteischule beim SPD-Parteivorstand wiederbelebte. Bei der Entstehung des in hohem Maße durch umweltpolitische Forderungen geprägten Berliner Programms der SPD, das im Dezember 1989 das bis dato immer noch gültige Godesberger Programm ablöste, war von Oertzen ebenso an führender Stelle beteiligt.
Empfohlene Zitierweise
Nikolas Dörr: Rezension zu: Kufferath, Philipp: Peter von Oertzen (1924–2008). Eine politische und intellektuelle Biografie. Göttingen 2017, in: H-Soz-Kult, 28.02.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26432>.