Rezension: Hebeisen, Erika; Hürlimann, Gisela, u.a., Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern

Hebeisen, Erika; Hürlimann, Gisela; Schmid, Regula, Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern, Zürich: Chronos Verlag 2018.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Nadine Zberg, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich.

Als um 2008 die Ereignisse von 1968 in der Schweiz erstmals eine wesentliche historiographische Bearbeitung erfuhren, erklärte Bernhard C. Schär das bisher mangelnde Interesse der Forschung damit, dass die hiesigen Ereignisse im Vergleich mit jenen in den europäischen Nachbarsländern zu marginal gewesen seien. Er hielt fest, dass das Jahr „in der jüngeren Geschichte der Schweiz keine unmittelbar einsichtige Zäsur“ darstelle. Schär empfahl daher, „neben den Brüchen auch die Kontinuitäten ins Auge zu fassen“.[1] Dennoch fokussierten die schweizerischen Publikationen der vergangenen Jahre auf „1968“ als eine zwei bis drei Jahre umfassende, „ereignisdichte, emotional stark aufgeladene gesellschaftliche Veränderungsphase“[2] und deren politische und kulturelle Nachwirkungen in den Folgejahren.[3]

Mit dem Band „Reformen jenseits der Revolte“ nähern sich die drei Herausgeberinnen Erika Hebeisen, Gisela Hürlimann und Regula Schmid dem Phänomen „1968“ nun dezidiert von den Rändern her an. Als Bezugsrahmen dienen ihnen die im deutschsprachigen Raum in diesem Zusammenhang seit einiger Zeit diskutierten „langen Sechziger“: Mit diesem Konzept möchten sie „Menschen, Organisationen und Institutionen, die im Lauf von rund zwanzig Jahren etwas in Gang brachten, wagten und erprobten, was dem gesellschaftlichen Aufbruch Vorschub leistete“ (S. 7f.), in den Blick nehmen. Damit zielen die Herausgeberinnen also auf eine Zerstreuung der auf die – hier konsequenterweise auch aus dem Titel verschwundene – Chiffre „1968“ fokussierten Aufmerksamkeit in einen größeren Zeitbereich hinein. So wollen sie „Tendenzen der Modernisierung und Liberalisierung sowie einen Reformwillen“ (S. 8), die bereits in den 1950er-Jahren zu erkennen waren und eine anhaltende Wirkung entfalteten, sichtbarmachen. Aus diesem Projekt einer Dezentrierung von „1968“ ergibt sich, dass die im Band versammelten Beiträge sich auch thematisch höchstens noch an der Peripherie des klassischerweise mit 1968 assoziierten Spektrums – neue Protestformen, sexuelle Liberalisierung, Generationenkonflikt etc. – bewegen. Einzelne Beiträge befassen sich so u.a. mit Stadtplanung, der Ethnopsychoanalyse oder der „alten“ Frauenbewegung der 1950er-Jahre.

Eine Ausnahme davon, die zugleich aber als programmatisch für den ganzen Band gelten kann, ist der Beitrag von Daniel Speich Chassé. Mit der Frage danach, was die Zürcher Studierenden in Bewegung versetzte, nimmt er sich einem der klassischen 68er-Themen an. Eine Annäherung an den studentischen Aktivismus um 1968 von den 1950er-Jahren her erlaubt es Speich Chassé, diesen im größeren bildungspolitischen und gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Aus dieser Warte zeigt sich, wie wenig politisch „radikal“ die Zürcher Studierenden in den 1960er-Jahren bei ihren Forderungen nach mehr Mitbestimmung größtenteils vorgegangen waren. Speich Chassé hält dazu fest: „Je genauer man sich den Ereignissen des bewegten Jahrzehnts nähert, umso banaler wird die vermeintliche Revolution und umso geringer erscheint der Beitrag, den die Studenten und Studentinnen der Zürcher Hochschulen dazu effektiv leisteten.“ (S. 55f.) Speich Chassé führt hier also für den Sammelband, dessen Umschlagbild sich mit einer Aufnahme eines neu gebauten Autobahnabschnitts von 1967 dezidiert der klassischen Ikonographie von 1968 verweigert, exemplarisch vor, wie sich die Chiffre „1968“ auflöst, wenn man sie in einem größeren zeitlichen Rahmen situiert.

Dass über diesen Zugang überraschende und erhellende neue Perspektiven auf die kulturellen und politischen Transformationsprozesse seit den 1960er-Jahren eröffnet werden können, zeigt etwa der Beitrag zu den Interventionen der italienischen Emigrationsorganisation „Colonie Libere Italiane“ in der Schweizer Bildungspolitik. Sarah Baumann und Philipp Eigenmann zeichnen darin nach, wie die als Arbeitsmigrantinnen und als Frauen in der Schweiz doppelt politisch marginalisierten Italienerinnen mit ihrem Engagement gegen die schulische Diskriminierung ihrer Kinder im Bildungswesen ein politisches Betätigungsfeld für sich eroberten und richtungsweisende Impulse für spätere progressive Reformen im Schweizer Schulwesen setzten. Damit leisten Baumann und Eigenmann einen Beitrag zur neueren Migrationsgeschichtsforschung, die Migrant/innen als gesellschaftspolitische Akteur/innen begreift, die in ihren Ankunftsländern durch Transfers von Wissen oder politischen Strategien einen wesentlichen Anteil an der Einleitung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen haben.[4] Gerade für die Untersuchung des Wandels der politischen Kultur und Ausdrucksformen in den 1960er-Jahren dürfte eine solche migrationsgeschichtliche Perspektive ein großes Potential bieten – Sarah Baumann und Philipp Eigenmann haben hier einen ersten Wegweiser gesetzt. weiterlesen

Empfohlene Zitierweise
Nadine Zberg: Rezension zu: Hebeisen, Erika; Hürlimann, Gisela; Schmid, Regula (Hrsg.): Reformen jenseits der Revolte. Zürich in den langen Sechzigern. Zürich  2018, in: H-Soz-Kult, 17.12.2019, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28243>.