Rezension: Florian Reichenberger, Der gedachte Krieg

Florian Reichenberger, Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2018.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Sebastian Rojek, Historisches Institut, Universität Stuttgart.

Die Bundeswehr befindet sich seit Jahren in einem Transformationsprozess, der auch damit zusammenhängt, dass die Streitkräfte sich auf neue Aufgaben einstellen müssen. Auf welche Einsätze soll die Truppe zukünftig ausgerichtet werden? Es ist augenscheinlich, dass viele der Probleme, mit denen die Bundeswehr derzeit konfrontiert ist, mit gewandelten Herausforderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Verbindung stehen.

Florian Reichenberger greift in seiner gelungenen Potsdamer Dissertation gewissermaßen diese aktuelle Frage auf und historisiert sie. Er fragt danach, inwiefern der Krieg „als Vorstellung einer möglichen Zukunft, als Erwartungshorizont“ (S. 4) in der Bundeswehr von 1955 bis 1990 entworfen worden ist. Innerhalb dieser Fragestellung ergeben sich weitere Fragenkomplexe, die sich darauf richten, zu eruieren, inwiefern überhaupt von einem einheitlichen Kriegsbild gesprochen werden könne, wie und warum sich die jeweiligen Vorstellungen während des „Kalten Kriegs“ wandelten und welche Kontinuitäten und Brüche sich innerhalb dieses Prozesses nachweisen lassen. Der Schwerpunkt der Studie liegt dabei auf dem Zeitraum von 1945 bis 1990, wenngleich ein längeres Kapitel die Vorgeschichte entsprechender Zukunftsvorstellungen seit der Reichsgründung in den Blick nimmt. So wird es möglich, längerfristige Entwicklungen aufzuzeigen, zumal die Kriegsbilder nach dem Zweiten Weltkrieg ja nicht im luftleeren Raum entstanden sind. Insgesamt reiht sich die Untersuchung in die zeithistorische Erforschung des deutschen Militärs ein, die nun schon seit einigen Jahren insbesondere am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr betrieben wird. Mit seiner kulturhistorisch orientierten Studie bereichert der Autor dieses Forschungsfeld, indem er zeigt, dass sich durch das Prisma des Kriegsbildes eine Vielzahl von Beeinflussungsfaktoren einfangen lassen. Denn Kriegsbilder, so macht die Studie immer wieder transparent, entstehen keineswegs allein aus strategischen oder operativen Überlegungen unter Berücksichtigung der potentiellen eigenen und gegnerischen Kräfte. Vielmehr liegen sie im Zentrum eines komplexen Geflechts unterschiedlicher Bedingungsfaktoren aus technischen Entwicklungen, geographischen Gegebenheiten, innen- und außenpolitischen Konstellationen sowie – nicht zuletzt – den Eigeninteressen der militärischen Institution und ihrer Teilstreitkräfte.

Um sein Untersuchungsfeld sinnvoll einzugrenzen, beschränkt sich Reichenberger darauf, „das maßgebliche militärische Spitzenpersonal der Organisation Bundeswehr“ (S. 7) ins Zentrum der Analyse zu rücken. In Kultur und Gesellschaft kursierende Vorstellungen über den nächsten Krieg bleiben also weitgehend außen vor, beziehungsweise werden nur insofern berücksichtigt, als sie in die Überlegungen der professionellen Militärs eingegangen sind. Die Quellenlage kann insgesamt als günstig bezeichnet werden, zumal es dem Autor gelungen ist, zahlreiche Akten für die Zeit nach 1970 erstmals freigeben zu lassen und damit der Forschung zugänglich zu machen.

Was aber bietet das Buch nun im Einzelnen? Nach einer längeren Einleitung, in der die Fragestellung umrissen sowie Forschungsstand, Quellenlage und Methodik offengelegt werden, reflektiert der Verfasser eingehend über den Begriff des Kriegsbildes. Ein kurzer historisch-semantischer Abriss enthüllt die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs, der erst nach 1945 die dominante Bedeutung als „hypothetisches Konstrukt im Sinne einer Vorstellung von einem gegenwärtig oder zukünftig möglichen Krieg“ (S. 35) annahm. In analytischer Hinsicht existieren bisher nur einige wenige Definitionsangebote, da ein Großteil der Literatur, der zudem dem Zeitalter der Weltkriege gewidmet ist, den Begriff ohne klare Abgrenzung verwendet. Deshalb wartet Reichenberger mit einer eigenen Definition auf, wonach unter einem Kriegsbild „eine Grundvorstellung vom Wesen eines zukünftig möglichen Krieges, das heißt von dessen Erscheinungsformen sowie von den Zwecken, den Möglichkeiten, den Mitteln, der Ausdehnung, der Intensität und den Auswirkungen der Kriegführung“ (S. 50) zu verstehen sei. Mit dieser Begriffsbestimmung wird man sich wohl einverstanden erklären können, zumal sie dem impliziten Verständnis, das bisher in der Forschung vorherrschte, weitgehend entsprechen dürfte.  weiterlesen

Empfohlene Zitierweise
Sebastian Rojek: Rezension zu: Reichenberger, Florian: Der gedachte Krieg. Vom Wandel der Kriegsbilder in der militärischen Führung der Bundeswehr im Zeitalter des Ost-West-Konflikts. Berlin  2018, in: H-Soz-Kult, 20.12.2019, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26397>.