Rezension: Baldassare Scolari, State Martyr. Representation and Performativity of Political Violence

Baldassare Scolari, State Martyr. Representation and Performativity of Political Violence, Baden-Baden: Nomos Verlag 2019.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Kevin Lenk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin.

Gewalt erklärt sich nicht von selbst. Sie muss ausgehandelt, gedeutet und in die Horizonte einer sinnhaften Welt eingeordnet werden, damit Menschen sich zu ihr verhalten können. Eine der schillerndsten, bekanntesten und langlebigsten Diskursfiguren, um aus Gewalt Sinn zu schöpfen, ist die des Märtyrers. War der Märtyrer eine ursprünglich anti-souveräne Figur des frühen Christentums, so schufen sich in der Moderne Nationalstaaten eigene, legitimierende Martyrologien.

Es sind jene titelgebenden Staatsmärtyrer, die Baldassare Scolari in seiner Dissertation interessieren und denen er nachspüren will. Als konkreten Untersuchungsgegenstand hat er sich den im Frühjahr 1978 von den Brigate Rosse (BR) entführten und schließlich ermordeten italienischen Politiker Aldo Moro ausgesucht. Dessen Martyrologisierung durch staatsnahe Akteure und Widerstände dagegen untersucht er in einer aus den diskursanalytisch arbeitenden Religionswissenschaften entsprungenen, sich aber gleichzeitig dezidiert transdisziplinär verstehenden Arbeit über die Grenzen von Geschichte und politischer Philosophie hinweg. Seinen Gegenstand versteht Scolari nicht unbedingt als Fallbeispiel, sondern als „point of departure for developing critical reflection on emergence, use and function of state martyrology and mythology in the modern and contemporary world“ (S. 9).

Scolaris dichte und konzeptuell anregende Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Kapitel 1 und 2 klären zunächst den Anspruch und konzeptuellen Rahmen seiner Arbeit. Dieser ist vor allem durch Konzepte Michel Foucaults und Stuart Halls sowie die Arbeiten Giorgio Agambens inspiriert. Im Anschluss an Foucault identifiziert Scolari mit den Narrativen der Souveränität und der Rebellion die beiden prinzipiellen „antithetical ways of referring to and giving meaning to political violence“ (S. 49). Diesen beiden Erzählweisen spürt Scolari sodann in klassischen Werken politischer Theorie nach und versucht mit einer dezidiert Agamben‘schen Lesart eine Theorie des Märtyrers zu entwickeln. Während das souveräne Narrativ politische Gewalt als existenzielles Böses aus der menschlichen Gesellschaft ausschließen müsse, um die souveräne Macht, die mythologisch verschleierte Kontrolle über das nackte Leben der Untertanen, zu legitimieren, unterlaufe die diskursive Figuration des Märtyrers diese Argumentationsstruktur durch die Sichtbarmachung jenes Unterwerfungszusammenhanges in der Kreatürlichkeit des Gemarterten. Um Essentialisierungen zu vermeiden, betont Scolari richtigerweise, dass die Lesbarkeit der Märtyrerfigur gleichsam auf den historischen Tiefenebenen vergangener diskursiver Verwendungen beruhe wie auch ihrer strategischen Nutzung in ihrem jeweils aktuellen diskursiven Kontext. Zu klären gelte es ebenfalls, wie aus dieser anti-souveränen Diskursstrategie des Martyriums die Figur eines Staatsmärtyrers entstehen konnte, die die Wirkweise des anti-souveränen Märtyrers legitimierend umdreht.

Diesem Problem nähert sich Scolari in Kapitel 3, in welchem er zunächst die Forschungsgeschichte zur Märtyrerfigur nachzeichnet, deren oft anthropologisierende Vorannahmen er problematisiert und mit seinem diskursanalytischen Zugriff konterkariert. Mit diesem Instrumentarium zeichnet Scolari ebenfalls überblickshaft nach, wie aus der ursprünglich genuin anti-souveränen Figur des frühchristlichen Märtyrers durch eine Reihe diskursiver Aneignungen die Figur des Staatsmärtyrers entstehen konnte.

In Kapitel 4 skizziert Scolari den historischen Erfahrungs- und Deutungsrahmen, in dem die Entführung Moros stattfand. Dafür spürt er martyrologischen Denkfiguren in den für den politischen Sinnhaushalt Italiens konstitutiven Phasen des Risorgimento und der Resistenza nach und skizziert die Politikgeschichte Italiens von 1948 bis 1978.

Scolari beginnt sodann in Kapitel 5 die Arbeit an seinem konkreten Untersuchungsgegenstand. Neben den kommunikativen Strategien der BR sowie dem Image Moros vor seiner Entführung legt er darin vor allem ausführlich dar, wie dieser von Beginn der Entführung an durch zahlreiche hochrangige Politiker und die Medien des Landes zum willentlichen Märtyrer für den italienischen Staat umgedeutet wurde. Scolari argumentiert, dass der Entführte als Homo Sacer aus der Sphäre des Politischen ausgeschlossen und in die Sphäre des Sakralen transponiert worden sei. Somit wurde Moro zum Symbol des italienischen Staates und eines vermeintlich geeinten italienischen Volkes, aus dem die BR durch die gleichzeitige Mythologisierung ihrer Gewalt ausgeschlossen wurde.  weiterlesen

Empfohlene Zitierweise
Kevin Lenk: Rezension zu: Scolari, Baldassare: State Martyr. Representation and Performativity of Political Violence. Baden-Baden  2019, in: H-Soz-Kult, 12.12.2019, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28691>.