Rezension – Sebastian De Pretto: Im Kampf um Geschichte(n)

Sebastian De Pretto: Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol (Formen der Erinnerung 71), Göttingen: V&R unipress 2020.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Karlo Ruzicic-Kessler, Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte, Freie Universität Bozen.

Eines sei vorweggenommen: Sebastian De Pretto leistet mit seiner Monografie viel mehr, als der bescheidene Titel dieses Werkes suggeriert. Es handelt sich um ein gründlich recherchiertes Buch, das in die (Un-)Tiefen der Südtiroler und italienischen Erinnerungsgeschichte eintaucht und mit scharfsinnigem Blick für Details und das große Ganze einen Kommentar über Erinnerungskultur, gesellschaftliche Rezeption, politische Vereinnahmung und soziale Bruchlinien darstellt. Jedem Historiker und jeder Historikerin, der/die sich mit italienischer Erinnerungsgeschichte, den Debatten in diesem komplexen Untersuchungsfeld und den Mythen der Vergangenheit sowie der Aktualität von Erinnerungsorten befasst, sei diese Untersuchung bereits jetzt ans Herz gelegt.

Das Werk teilt sich in vier circa gleich lange thematische Schwerpunkte sowie eine Einleitung und ein Schlusskapitel. Der methodischen und theoretischen Untersuchung am Anfang des Buches ist der Ursprung des Werkes als Dissertation klar anzumerken, doch darf diese bei einem gesellschaftlich und politisch heiklen Thema durchaus ausführlich ausfallen. Gefolgt wird dieses Kapitel vom ersten thematischen Schwerpunkt: dem Alpini-Denkmal in Bruneck. Dieses 1938 eingeweihte Denkmal, das auch das Cover des vorliegenden Werkes ziert und von der faschistischen Staatsführung der Tapferkeit der italienischen Alpini gewidmet wurde, schafft es mit seiner kontroversen Geschichte, als Spiegel Südtirols im 20. Jahrhundert zu fungieren. Der Autor verweist in seinen Erklärungen zum Denkmal nicht nur auf die Bedeutung dieses steinernen Eroberungszeichens Italiens im Pustertal, sondern geht auch detailliert auf die faschistische Denkmalpolitik in Südtirol ein, erklärt die strategischen und politischen Ziele des Regimes und die Ikonografie der vielen Zeichen, die das faschistische Regime setzte (man denke hier nur an das berühmte Siegesdenkmal in Bozen). Die architektonische Eroberung des Raumes ist eine Konstante der faschistischen Politik nach der Machtergreifung 1923, doch gerade in einem von deutschsprachigen Einwohnern dominierten Gebiet wie Südtirol nimmt diese Eroberung eine besondere Stellung ein. Dabei kann man die Gründung der vermeintlich fortschrittlichen, neuen Stadtteile in Bozen betrachten, die sich im Gegensatz zur als rückständig gesehenen, deutschsprachigen Altstadt darstellen. Doch auch in den kleineren Städten und Ortschaften rekurrierte das Regime auf die optische Eroberung durch Denkmäler, die in etlichen Fällen auf die Heroisierung der italienischen Kriegszüge in Afrika hindeuteten. In diesen Kontext fällt auch das Alpini-Denkmal in Bruneck. Das Denkmal, das der 5. Alpini-Division „Pusteria“ gewidmet war, stellte für das Regime nicht nur ein Prestigeobjekt dar, das den Sieg im Feldzug gegen Äthiopien bedachte, wo sich die Division durch besonders heldenhafte Taten hervorgehoben haben soll, sondern auch ein Zeichen der Eroberung Südtirols durch die strategische Platzierung des Denkmals an der Hauptverkehrsachse in Bruneck. Das Denkmal fungiert dann als Spiegel der Geschichte Südtirols und seiner wechselvollen Etappen. Es wird mit der italienischen Kapitulation vom 8. September 1943 und der Übernahme der Verwaltung Südtirols durch Nazi-Deutschland zum ersten Mal zerstört. Noch zwei Mal sollte das Denkmal, das nach dem Krieg wiedererrichtet wurde, dieses Schicksal ereilen – neben verschiedenen Beschmierungen. Dabei lässt sich anhand der Art, wie die italienische Republik mit diesem Denkmal umging, auch eine Linie zur italienischen Vergangenheitsbewältigung ziehen, die über Jahrzehnte nicht erfolgt ist. Besonders spannend ist das Beispiel des Alpini-Denkmals allerdings auch für seine unterschiedliche Deutung (einerseits Zeichen der italienischen Eroberung und verhasstes Objekt für die deutschsprachige Bevölkerung, andererseits Ehrenbekundung für gefallene Soldaten und Zeichen der Verbundenheit der italienischsprachigen Bevölkerung mit dem Rest des Landes). De Pretto gelingt es, anhand dieses Denkmals die Debatten der italienischen und Südtiroler Nachkriegszeit darzulegen und die schwierige Aufarbeitung der faschistischen Herrschaft zu erklären. Mehrfach wurde das Denkmal nach dem Krieg umgedeutet, doch stand es immer im Spannungsfeld zwischen „deutsch-nationalistischen“ und „italienisch-nationalistischen“ Sichtweisen, die lange Zeit die Geschichte Südtirols geprägt haben. Sehr gut zeigt der Autor auch auf, dass erst die (späte) kritische Auseinandersetzung durch eine neue Historikergeneration sowie Journalisten und Politiker zu einer besseren Aufarbeitung und einer umfassenderen Betrachtung der „steinernen“ Geschichte geführt hat.

Den Straßennamen von Bozen und deren Umbenennung ab 1919 bis ins Jahr 2000 ist der zweite große Themenblock gewidmet. Auch in diesem Fall lässt sich die faschistische Eroberungspolitik in Südtirol durch ein weiteres, wichtiges Symbol nachzeichnen: die Namen von Straßen und Plätzen, die in jeder Stadt allgegenwärtig sind. In der neuen Stadt, die sich in Bozen hinter dem Siegesdenkmal erstreckt, finden sich bis heute Straßennamen, die einen direkten Bezug zur kolonialen Geschichte Italiens haben. Obschon die Bezeichnungen nach dem Krieg zunächst abgeschafft wurden, fanden sie zum Teil bis in die 1950er-Jahre wieder ihren Platz in der Bozner Odonomastik. In diesem Kapitel lassen sich somit auch sehr gut die historische Aufarbeitung und die politischen Diskussionen rund um die Namen aus der Vergangenheit nachvollziehen. Gerade in Bozen standen diese Debatten über mehrere Jahrzehnte an der Tagesordnung, da keine Einigung darüber gefunden werden konnte, wie man mit der Vergangenheit umgehen solle. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde etwa versucht, die „Piazza della Vittoria“, auf der sich das Siegesdenkmal befindet, in „Piazza della Pace“ umzubenennen. Dieser Versuch scheiterte allerdings kläglich, was die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten in der Deutung von Geschichte unter Beweis stellt. Die faschistische Symbolik des Siegesdenkmals wurde allerdings durch architektonische Eingriffe in der Mitte der 2010er-Jahre entschärft.

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Empfohlene Zitierweise
Karlo Ruzicic-Kessler: Rezension zu: De Pretto, Sebastian: Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol. Göttingen  2020, in: H-Soz-Kult, 11.03.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29768>.