Rezension: Marcus Payk, Roberta Pergher: Beyond Versailles

Marcus Payk, Roberta Pergher: Beyond Versailles. Sovereignty, Legitimacy, and the Formation of New Polities after the Great War, Bloomington: Indiana University Press 2019.

 

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln.

„Beyond Versailles“ kann vieles heißen. Gemeint sind insgesamt die unterschiedlichen Pariser Friedensverhandlungen, von denen sich dieser Band absetzt, wenn er die Umsetzungen und Folgen mehr oder weniger „vor Ort“ in den entsprechenden Gebieten zum Thema macht. Gerade im Zentenar-Jahr 2019 sind solche Blickrichtungen immer wieder zur Sprache gekommen, so in den bedeutenden Gesamtdarstellungen von Conze, Leonhard und Schwabe[1], doch ist den Herausgeber/innen recht zu geben: Sie haben zumeist selten gewählte Perspektiven mit innovativen Studien vor dem Hintergrund der weit verzweigten Forschung erarbeitet. Und sie knüpfen an drei weitere Trends an: Sie gehen die Implementierung gleichsam von der Mikroperspektive an; sie berücksichtigen statt des lange dominierenden Blicks auf Westeuropa vor allem Ostmitteleuropa und einige über Europa hinausweisende Gebiete und schließlich gehen sie zeitlich deutlich über die Zeit der Pariser Verhandlungen hinweg – sowohl zuvor als auch danach. Damit tragen sie zwar nicht Eulen nach Athen, entdecken aber doch einige neue Verhaltensweisen wenig beachteter Eulenarten.

Im Mittelpunkt steht dabei „self-determination“ als Kernprinzip der legitimen Regierung, was von vielen Autoren explizit als „national self-government“ verengt wird, obwohl doch Marcus Payk und andere betonen, dass es dem US-Präsidenten Woodrow Wilson ursprünglich um (demokratische) Selbstverwaltung und nicht nationale Unabhängigkeit ging (S. 222 und öfter). Indem Selbstbestimmung damals aber als Legitimationsprinzip für Nationalstaaten angesehen wurde, gewann dieses juristische Gebilde jedoch 1919 Eigenwert und strukturierte Verhandlungen. Nicht erwähnt in dem Band wird etwa die Skepsis schon von Wilsons Secretary of State Robert Lansing, der Ende 1918 notiert hatte: „What effect will it have on the Irish, the Indians, the Egyptians, and the nationalists among the Boers? […] The phrase is simply loaded with dynamite. It will raise hopes which can never be realized. It will, I fear, cost thousands of lives. In the end it is bound to be discredited, to be called the dream of an idealist who failed to realize the danger until too late to check those who attempt to put the principle into force. What a calamity that the phrase was ever uttered! What misery it will cause!“[2]

Ganz so schlimm kam es dann doch nicht, aber es zeigte sich schnell, dass eine konkrete Umsetzung weit mehr und andere Faktoren ins Spiel der Politik brachte, wenn sie nicht schon zuvor virulent waren. Gelegentlich klingt es in dem Band so, als ob grundsätzlich demokratische Selbstbestimmung versus alte Großmachtpolitik gestanden habe. Doch machen einige Autoren, voran Brendan Karch bei einem Überblick über die wenigen Plebiszite, die Legitimität schaffen sollten, klar, dass diese recht schwierig umzusetzen waren. Gerade bei Oberschlesien kamen ganz andere Schichten hinzu und auch für das Gebiet um Teschen zeigt Isabelle Davion, dass die ethnischen Lagen unentwirrbar waren. Hinzu kamen hier, aber auch in anderen Fällen, Erwartungen an die künftige politische Rolle der möglichen neuen Nationen, kulturelle Zugehörigkeit, wirtschaftlicher Zusammenhalt, historische Bindungen – auch und gerade auf der Mikroebene über den Zusammenhang von Regionen. Schließlich kommen fast alle Autoren irgendwo am Rande dazu, dass die Interessen der Großmächte tatsächlich eine zentrale Rolle spielten. Dem Wilson‘schen Verständnis hingen Franzosen oder Briten sowieso nur sehr abgewandelt an.

Gewiss gab es einen „legalistic approach“ (Payk, S. 220), doch viel mehr waren es machtpolitische Interessen eben der siegreichen Großmächte, die eine bestimmte Linie – auch der Legitimation – durchsetzten. Das galt für die Freie Stadt Danzig, die geschaffen wurde, um polnischen Interessen entgegenzukommen, eben keine freie Selbstbestimmung der deutschen Einwohner zuließ, wie Payk selbst sehr klar an der Frage der polnischen Post zeigt. Das gilt aber auch für Oberschlesien, wo es vielleicht nicht ganz ausreicht, wenn Karch meint, die Mächte hätten formal ja nur ein „advisory plebiscite“ (S. 27) eingefordert und die Teilung daher nach einem gewissen politischen Gutdünken vollzogen. Die Crux aller Selbstbestimmung – und das kommt in dem Band nicht vor – lag damals (und bis heute) in der Frage, wer es warum durchsetzte, in welchem Gebiet und von welchen Menschen über Selbstbestimmung votiert werden sollte.[3] Dies gesagt, würde der Rezensent auch nach diesem Band die machtpolitischen Interessen der neuen Staaten vor Ort, stärker aber noch die der Großmächte als konstitutiv, nicht nur als Relikt gegenüber neuen, legalistisch legitimierenden Politikansätzen ansehen, die es gewiss gab.[4]  weiterlesen

Empfohlene Zitierweise
Jost Dülffer: Rezension zu: Payk, Marcus M.; Pergher, Roberta (Hrsg.): Beyond Versailles. Sovereignty, Legitimacy, and the Formation of New Polities after the Great War. Bloomington  2019, in: H-Soz-Kult, 09.01.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29252>.