Rezension – J. Dinkel u.a. (Hrsg.): Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation

Jürgen Dinkel/Steffen Fiebrig/Frank Reichherzer (Hrsg.), Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2020.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Eric Burton, Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Auf einer Rede im Jahr 1961 teilte der Premierminister Tanganjikas, Julius Nyerere, die Welt mit seiner Rede in zwei Hälften: „[T]he world is still divided between the ‘Haves’ and the ‘Have-nots’. This division is not a division between Capitalists and Socialists, nor between Capitalists and Communists; this division is a division between the poor countries of the world and the rich countries of the world.” Mitten im Kalten Krieg war diese Deutung der Welt freilich nicht nur Analyse, sondern auch Ansatzpunkt und Legitimation für einen Politikentwurf, der in Panafrikanismus und Blockfreienbewegung ebenso aufgehen konnte wie in einer solidarischen „Gewerkschaft der Armen“, wie Nyerere später sagen sollte. Als er die Rede 1963 in abgewandelter Form auf dem Kongress der Afro-Asian Peoples‘ Solidarity Organisation in Moshi (Tanganjika) noch einmal hielt, sagte er voraus, dass die Bedeutung dieser Arm-Reich-Teilung noch zunehmen werde: „This is the coming division of the world – a class, not an ideological division.“

Wie kam es zu dieser Sicht einer zweigeteilten Welt, in der die entscheidenden Interessengegensätze – wie Nyerere noch nicht sagte – zwischen „Norden“ und „Süden“ statt „Ost“ und „West“ verortet wurden? Was waren die institutionellen Ausformungen und politischen Potenziale dieses neuen Ordnungsmodells? Das sind Leitfragen des Sammelbandes Nord/Süd. Perspektiven auf eine globale Konstellation. Wie die Herausgeber Jürgen Dinkel, Steffen Fiebrig und Frank Reichherzer in der Einleitung festhalten, besteht über den historischen Stellenwert des Nord-Süd-Konflikts kein Konsens. Handelte es sich um eine ernsthafte Herausforderung westlicher Dominanz, die gar zu tatsächlichen Transformationen führte? Oder war es, was einem länger etablierten Narrativ entspricht, in erster Linie Rhetorik, die angesichts zersplitterter Interessen und fehlendem machtpolitischen Nachdruck weitgehend wirkungslos verpuffte (S. 9)? Rüdiger Graf beschließt den Band – keineswegs repräsentativ für die anderen Beiträge – mit der These, dass der Nord-Süd-Konflikt in den 1970er-Jahren ein „Erwartungsbegriff“ gewesen sei, der jedoch aus heutiger historiographischer Sicht gesprochen „keine wesentliche Konfliktlinie der internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar“ mache (S. 425). Hatte Nyerere mit seiner Vorhersage also unrecht?

Antworten auf die Frage nach den Charakteristika, Ausformungen und Kooperationen bzw. Konflikten der Nord-Süd-Beziehungen hängen nicht zuletzt vom Ansatz und konkreten Untersuchungsgegenstand ab. Hinzu kommt, dass das Denken in Nord-Süd-Konstellationen mit anderen Deutungsmustern wie Entwicklungsländer/entwickelte Länder, Erste, Zweite und Dritte Welt, Supermächte, Satelliten und Blockfreie, oder Zentrum-Peripherie konkurrierte und überlappte (S. 2–3). Dementsprechend betonen die Herausgeber schon in der Einleitung, dass sie die Kategorien von Nord und Süd in erster Linie als zu historisierende Quellenbegriffe, nicht als analytisches Handwerkszeug verstehen. Sie sehen in der Nord-Süd-Konstellation einen „Komplex“, in dem sich mehrere Prozesse im Zuge der Dekolonisierung bündelten und neue Argumentationsmuster für politisches Handeln artikuliert wurden.

Wessen Perspektiven stehen in den insgesamt 17 Beiträgen im Fokus? Schlüsselpersonen wie Raúl Prebisch, Houari Boumedienne oder Willy Brandt finden einige Beachtung; oft geht es jedoch eher um das Nachzeichnen von Debatten und Konfliktlinien in internationalen Organisationen und Foren. Das geschieht einerseits auf Grundlage von Materialien multilateraler Institutionen wie UNCTAD, CEPAL, UNIDO, UNECSO oder OPEC, andererseits mit Akten aus staatlichen Archiven von Rio de Janeiro und Washington über Berlin und Moskau bis New Delhi. Stella Krepp etwa zeigt in ihrem vielschichtigen Aufsatz, wie das lateinamerikanische Zentrum-Peripherie-Modell den Grundstein für eine wirtschaftliche und damit strukturelle Definition des Südens legte, aber dafür auch erst ein institutioneller Raum im Ringen mit westlicher Dominanz erkämpft werden musste. Steffen Fiebrig und Michel Christian nehmen mit der UNCTAD und der UNIDO zwei Institutionen in den Blick, für die das Nord-Süd-Verständnis handlungsleitend war, aber in Bezug auf Definitionen und Umverteilungsforderungen auch immer umstritten blieb. Jonas Kreienbaum legt dar, wie der Fokus auf wirtschaftliche Strukturen der Blockfreienbewegung auf ihrer Konferenz 1970 in Lusaka neues Leben einhauchte und so den Auftakt zu einer zweiten Blütezeit politischer Initiativen bildete. Je selbstbewusster die Forderungen, desto mehr wurde der Süden im Westen dann auch als Bedrohung und Konkurrenz wahrgenommen, wie Andreas Weiß anhand von Reaktionen in den Europäischen Gemeinschaften darstellt.

Erfreulicherweise geht der Band über wirtschafts- und handelspolitische Fragen wie die beabsichtigte Etablierung einer „Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung“ hinaus. Dabei kommen auch Akteure in den Blick, denen in der Nord-Süd-Historiografie bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde, so zum Beispiel auch indische Literaten, sowjetische Kulturfunktionäre, westafrikanische Filmschaffende oder die Führungsspitzen eines kapitalistischen Unternehmens. Wie Dmitri van den Bersselaar anhand der Protokolle des Leitungsgremiums der Unilever-Tochter United African Company argumentiert, waren multinationale Firmen in Afrika weit mehr mit der Einschätzung konkreter Politiker wie Kwame Nkrumah und der Angst vor dem Sozialismus beschäftigt als mit dem Nord-Süd-Konflikt. Andreas Hilger wiederum zeigt, dass indischen Akteuren die Struktur des bilateralen Handels mit der UdSSR missfiel und Erinnerungen an die Beziehungen zwischen Metropole und Kolonie weckte; gleichzeitig galt das von indischen Gesprächspartnern fallweise beworbene Nord-Süd-Ordnungsmuster im sowjetischen Außenministerium als imperialistische Vernebelungstaktik (S. 105–106).

Das Nord-Süd-Deutungsmuster war also zu keiner Zeit hegemonial – was im Zeitalter des Kalten Krieges und der Dekolonisierung wohl auch verwundern würde. So hält Sarah Stein in ihrem Beitrag zu westafrikanischen Filmschaffenden fest, dass diese die Abhängigkeitsverhältnisse zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zwar deutlich spürten und auch kritisierten – aber vor den 1970er-Jahren nicht mit Begriffen wie „Nord“ und „Süd“ operierten. In vielen Beiträgen wird auch die Heterogenität innerhalb von „Nord“ (bzw. „West“ und „Ost“) und „Süd“ erkennbar: Rumäniens Positionierung als „sozialistisches Entwicklungsland“ seit 1972 etwa, anschaulich dargestellt in Daniel Stahls Beitrag zur Verknüpfung von Abrüstungsforderungen und Entwicklungsfragen, wich selbstbewusst vom sowjetischen Standpunkt ab. Damit wird deutlich, dass die Ost-West-Konkurrenz nur fallweise Erklärungskraft besitzt und erst die Betrachtung komplexer „Beziehungsvielecke“ (Andreas Hilger, S. 87) und konkreter Akteure ein adäquates Verständnis ermöglicht. Es ist also keinesfalls so, dass der Sammelband dazu verleiten würde, ein vielkritisiertes, binäres Ordnungsmuster durch ein anderes zu ersetzen.

Weiterlesen

Empfohlene Zitierweise
Eric Burton: Rezension zu: Dinkel, Jürgen; Fiebrig, Steffen; Reichherzer, Frank (Hrsg.): Nord/Süd – Perspektiven auf eine globale Konstellation. Berlin  2020, in: H-Soz-Kult, 19.05.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50318>.