Rezension – Frank Bösch u.a. (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung

Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan (Hrsg.), Handbuch Krisenforschung, Wiesbaden: Springer VS 2020.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Amerigo Caruso, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Ähnlich wie die Zwischenkriegszeit und die 1970er-Jahre scheint auch das frühe 21. Jahrhundert durch ein ubiquitäres Krisenempfinden geprägt zu sein. Der Krisenbegriff wird dabei inflationär verwendet, was zu seiner zunehmenden Unbestimmtheit und analytischen Unschärfe geführt hat. Während gegenwärtige ökonomische Theorien auf den Begriff verzichten, ist „Krise“ aus politikwissenschaftlichen und historischen Studien nicht wegzudenken. Der Grund dafür liegt gerade in der zunehmenden Verwendung des Begriffs sowie der Erweiterung seines Anwendungsbereichs seit dem 19. Jahrhundert. Diese Dynamik verleiht Krisendiskursen große Bedeutung, wenn es darum geht, Entscheidungsprozesse und Rechtfertigungsnarrative von einzelnen Akteuren/innen, Akteursgruppen und staatlichen Institutionen zu rekonstruieren. Man könnte zugespitzt behaupten, dass der Krisenbegriff ausgerechnet wegen seiner semantischen Unbestimmtheit und des ubiquitären Charakters attraktiv ist, denn dadurch werden wesentliche Aspekte moderner Gesellschaften sichtbar, nämlich Mechanismen der Komplexitätsreduzierung, der medialen Dramatisierung und der Legitimation einer politischen Ordnung.[1]

Die „zeitdiagnostische und performative Kraft“ des Krisenbegriffs bildet den Ausgangspunkt eines neuen, interdisziplinären Handbuchs (S. 7), das den state of the art der Krisenforschung resümiert und für ein „reflexives“ Krisenverständnis plädiert. Dieser methodisch-theoretische Ansatz begreift „Krise“ sowohl als Beobachtungsgegenstand als auch als Beobachtungsinstrument und bildet somit einen Kompromiss zwischen Verabsolutierung der konstruktivistischen Perspektive und unkritischer, positivistischer Krisendarstellungen. Einerseits wird die „Verfestigung der Krise im und durch den gesellschaftlichen Diskurs“ untersucht, andererseits aber auch „die realen Ursachen und Auswirkungen von politischen, wirtschaftlichen oder humanitären Krisen“ nicht völlig relativiert (S. 5). Das Handbuch ist im Rahmen des 2013 gegründeten Leibniz-Forschungsverbunds „Krisen einer globalisierten Welt“ entstanden und besteht aus 13 Beiträgen über Krisenfelder wie Politik, Ökonomie und internationale Institutionen. Gefragt wird nach der zeitlichen und räumlichen Dimension von Krisen, aber auch nach dem Umgang mit Notsituationen sowie den globalen Verflechtungen von Krisenereignissen und schließlich der Interdependenz zwischen verschiedenen Krisenfeldern, wie zum Beispiel zwischen Umweltveränderungen, politischer Instabilität, Migration und Gewaltkonflikten. Die Herausgeber/innen verstehen Krisen als Ereignisse, die öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und einen besonderen Handlungsdruck generieren. Gleichzeitig aber werden in Krisensituationen Handlungsroutinen ausgesetzt, so dass Entscheidungen auch außerhalb der gewöhnlichen politischen Prozesse erfolgen können (wie zuletzt die sogenannten Corona-Gipfel gezeigt haben).

Wie reflexive Krisenforschung konkret operationalisiert werden kann, zeigt am besten der Beitrag von Sandra Destradi und Christian von Soest über internationales Krisenmanagement. Hier werden Krisen nicht (nur) als „objektiv“ identifizierbare, sondern vielmehr als perzipierte und sozial konstruierte Ereignisse aufgefasst. Die Autoren/innen betrachten die krisenhafte Bedrohung einer regionalen oder globalen Ordnung und die „diskursive Konstruktion der Notwendigkeit von Krisenmanagement“ als eng verflochten (S. 236). Der Völkermord in Ruanda 1994 zeigt exemplarisch, dass die Existenz dramatischer Gewaltkonflikte nicht ausreichend ist, um die Mechanismen des internationalen Krisenmanagements zu aktivieren. Diese werden vielmehr nur dann aktiv, wenn die internationale Gemeinschaft einen bestimmten Konflikt als Bedrohung wahrnimmt. Die Hervorhebung der konstruierten Dimension von Krisenpolitik hilft zudem zu verstehen, warum im Bereich des internationalen Krisenmanagements die Grenzen zwischen Lösungsorientierung und Verfolgung partikularer Interessen fließend sind.

Grundlegend für die Konzeption des Handbuchs ist ebenfalls der begriffsgeschichtliche Beitrag von Rüdiger Graf. Dynamiken des begrifflichen Wandels werden hier anhand von zwei Tiefenbohrungen in den 1920er- und 1970er-Jahren untersucht. Graf beschreibt zunächst, wie der ursprünglich medizinische Krisenbegriff auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Anwendung fand und sich in der Alltagssprache durchsetze. Diesen Erfolg erklärt er dadurch, dass „Krise“ als rhetorische Strategie versprach, die „Komplexität moderner Gesellschaften auf eine eindeutige Alternative zu reduzieren und so zur kollektiven Aktivität zu motivieren“ (S. 20). Die inflationäre Begriffsverwendung war in der Weimarer Republik und den 1970er-Jahren besonders ausgeprägt. Dabei verschob sich der Bedeutungsakzent: Während im frühen 20. Jahrhundert der Krisenbegriff Veränderungsbedarf und -bereitschaft signalisierte und damit eine weitgehend positive Bedeutung hatte, gewann er im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine eher negative Konnotation. Graf zufolge ist dieser Bedeutungswandel mit der Erosion eines progressiven Geschichtsverständnisses und dem zunehmend globalen und permanenten Charakter (zeit)historischer Krisen verknüpft, die zunehmend unübersichtlicher und auswegloser erscheinen.

Heidi Hein-Kirchers Beitrag ist dem Zusammenhang zwischen politischen Mythen und (Erinnerung an) Krisen gewidmet. Die Autorin betont, dass historische Mythen einen politischen Neuaufschwung in Krisenzeiten erleben, wie zum Beispiel die Idee der Verteidigung des „christlichen Abendlandes“ im Kontext der Flüchtlingskrise 2015 oder der Bismarck-Mythos in der Weimarer Republik. Umgekehrt generieren Krisen und vor allem deren Überwindung neue politische Mythen und Topoi für Erinnerungskulturen. Die Bedeutung des Heroischen in Krisenzeiten ist laut Hein-Kircher dadurch zu erklären, dass der Verweis auf vergangene heroische Leistungen politische Entscheidungen legitimieren und zugleich gemeinsame Traditionen erfinden kann, die gesellschaftsstabilisierend wirken. Der Beitrag zeigt, dass Mythos, Erinnerungskultur und Krise bzw. die damit verknüpften Sinn- und Orientierungsfunktionen in einem engen Wechselverhältnis stehen. Hein-Kircher zufolge wird dies am Beispiel der Personenkulte im 20. Jahrhundert besonders deutlich, wobei über die Verflechtungen von Krise, Erinnerung und Mythos noch dringender Forschungsbedarf besteht.

In seinem Beitrag skizziert Werner Plumpe die Phänomenologie vormoderner und moderner Wirtschaftskrisen. Er betont, dass qualitative und nicht quantitative Aspekte dafür ausschlaggebend sind. Denn in die Vormoderne gab es zwar (quantitativ) zahlreiche Spekulationskrisen und Staatsbankrotte, jedoch gewannen sie mit der Entstehung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert eine (qualitativ) andere, gesamtwirtschaftliche und damit politisch-gesellschaftliche Relevanz. Diese war vor 1800 nur bei Agrar- und Ernährungskrisen vorhanden. Zudem hebt Plumpe als qualitative Transformation hervor, dass moderne Krisendynamik nicht nur von der rein wirtschaftlichen Relevanz einer Rezession oder eines Abschwungs abhängig ist, sondern vielmehr von der Deutung und den politischen sowie gesellschaftlichen Reaktionen auf die Krise. Auch hier scheint „reflexive Krisenforschung“ zielführend zu sein.

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Empfohlene Zitierweise
Amerigo Caruso: Rezension zu: Bösch, Frank; Deitelhoff, Nicole; Kroll, Stefan (Hrsg.): Handbuch Krisenforschung Wiesbaden  2020, in: H-Soz-Kult, 14.04.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50298>.