Rezension: Archie Brown – The Human Factor. Gorbachev, Reagan, and Thatcher, and the End of the Cold War

Archie Brown, The Human Factor. Gorbachev, Reagan, and Thatcher, and the End of the Cold War, Oxford: Oxford University Press 2020.

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Peter Ridder, Berliner Kolleg Kalter Krieg.

Michail Gorbatschow beschrieb mit der Bezeichnung „chelovecheskiy faktor“ (englisch: „The Human Factor“) einst die besondere Bedeutung der guten persönlichen Beziehungen zwischen ihm und westlichen Politiker/innen, die zum Ende des Kalten Krieges beitrugen (S. 4, Anm. 13). Archie Brown, 2005 emeritierter Professor an der Universität Oxford – einer der renommiertesten schottischen Politikwissenschaftler und bekanntesten Russlandexperten Großbritanniens –, greift diesen Quellenbegriff in seinem neuesten Buch auf und macht ihn zum Ausgangspunkt seiner Analyse. Er fragt, welchen Einfluss die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen dem sowjetischen Generalsekretär, der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem US-Präsidenten Ronald Reagan auf das Ende des Systemkonfliktes hatten. Sein Ziel ist es aufzuzeigen, wie wichtig individuelles Handeln in der Geschichte war und welche Wirkung der „menschliche Faktor“ in der internationalen Politik entfalten konnte. Mit diesem Ansatz wendet sich der Autor gezielt gegen die These der „realistischen Schule“ der 1990er-Jahre, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion primär strukturelle Ursachen hatte und unausweichlich war.[1] Brown hat bereits unzählige Bücher über die Sowjetunion und Russland veröffentlicht sowie zahlreiche Preise und Ehrungen für seine Forschungen erhalten. Diese konzentrieren sich seit Mitte der 1990er-Jahre vor allem auf Gorbatschows Reformpolitik und ihre Folgen.[2] Sein neuestes Werk trägt einen ähnlichen Titel wie seine erste, 1996 erschienene Studie „The Gorbachev Factor“. Diesmal greift Brown auf vierhundert Seiten die Ergebnisse früherer Arbeiten auf und stellt sie im Kontext der Dreiecksbeziehungen zwischen Gorbatschow, Thatcher und Reagan in ein neues Licht. Damit reiht sich seine Arbeit in eine lange Liste neuer und umfassender Monografien ein, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden und das Ende des Kalten Krieges untersuchen.[3]

Ähnlich wie schon in älteren Arbeiten beschreibt Brown in „The Human Factor“ nicht nur das Zusammenwirken der drei Staatsoberhäupter aus der Perspektive des auktorial erzählenden Historikers, sondern lässt immer wieder seine eigenen Erfahrungen als Zeitzeuge und beteiligter Akteur in ausführlichen Anmerkungen einfließen. Der Autor bereiste in den 1960er-Jahren als Gastwissenschaftler an der staatlichen Universität in Moskau mehrfach die Sowjetunion. Zudem unterhielt er persönliche Kontakte zu britischen (später auch ehemaligen sowjetischen) Diplomat/innen. In den 1980er-Jahren beriet er die britische Premierministerin Thatcher in ihrer Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion.

Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte. Im ersten Abschnitt erläutert Brown knapp die Entstehungsgeschichte des Kalten Krieges in den 1940er-Jahren. Das Narrativ bewegt sich entlang der wichtigsten Konferenzen, Krisen und Kriege jener Jahre und erklärt die Eskalation zwischen Ost und West aus Sicht Winston Churchills, Franklin D. Roosevelts, Harry S. Trumans und Josef Stalins. Anschließend widmet sich der Autor den Biographien seiner drei Hauptprotagonisten. Anschaulich zeichnet er die jeweils sehr unterschiedliche persönliche und politische Entwicklung Gorbatschows, Thatchers und Reagans von ihrer Kindheit bis zu ihrem Aufstieg ins höchste Staatsamt nach.

Der zweite Abschnitt bildet den Hauptteil der Analyse. Brown beschreibt darin sehr detailliert jedes einzelne Treffen zwischen Gorbatschow, Thatcher und Reagan zwischen 1985 und Ende 1988 und arbeitet deren persönliche Verhältnisse zueinander heraus. Laut Brown entwickelten sowohl Thatcher als auch Reagan schon früh Sympathien für den neuen sowjetischen Generalsekretär und beide bestärkten sich gegenseitig darin, mit diesem zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus ermutigte und unterstützte Reagan Gorbatschow darin, seine Reformen voranzutreiben. Thatcher diente dem Kremlchef hingegen vor allem als intellektueller Sparringpartner. Beide stritten oft leidenschaftlich, woraus sich eine auf gegenseitigem Respekt fußende persönliche Freundschaft entwickelte. Sie lernten voneinander und nutzten die Schlagabtausche, um ihre eigenen Argumente zu schärfen. Browns Analyse zeigt, dass Gorbatschow die entscheidende Position in diesem Beziehungsgeflecht einnahm. Obwohl Welten zwischen den bürgerlich-konservativen und neoliberalen Ansichten Thatchers und den von der westeuropäischen Sozialdemokratie inspirierten Ideen Gorbatschows lagen, gelang es dem Generalsekretär schnell, das Vertrauen der Premierministerin zu gewinnen. Auch den konservativen Antikommunisten Reagan konnte er nach kurzer Zeit von sich überzeugen. Dabei war sich Letzterer seiner intellektuellen Überlegenheit gegenüber dem US-Präsidenten stets bewusst und wusste diese geschickt zu kaschieren.

Wie gut Gorbatschow den „menschlichen Faktor“ einsetzte, zeigt sich auch im dritten Abschnitt, in dem Brown die neue Dreieckskonstellation zwischen Helmut Kohl, George H.W. Bush und dem sowjetischen Generalsekretär ab 1989 in den Blick nimmt. Bush und Kohl entwickelten schnell eine enge persönliche Freundschaft zueinander. Auch wenn beide anfangs mit dem sowjetischen Reformpolitiker fremdelten, gelang es Gorbatschow bereits Ende 1989, Bush und Kohl von sich zu überzeugen und eine solide Vertrauensbasis aufzubauen. Thatcher verlor in dieser Zeit hingegen ihren Einfluss, da sie sich mit ihrer persönlichen Abneigung gegenüber Kohl und Bush sowie ihrer ablehnenden Haltung zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Vertiefung der europäischen Integration selbst ins Abseits stellte. Ihre Freundschaft mit Gorbatschow trübte das allerdings nicht.

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Empfohlene Zitierweise
Peter Ridder: Rezension zu: Brown, Archie: The Human Factor. Gorbachev, Reagan, and Thatcher, and the End of the Cold War. Oxford  2020, in: H-Soz-Kult, 21.01.2021, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49961>.