Andrea Claaßen, Gewaltfreiheit und ihre Grenzen. Die friedensethische Debatte in Pax Christi vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges, Baden-Baden: Nomos Verlag 2019.
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedensforschung bei H-Soz-u-Kult von: Joannes Pantenburg, Universität Konstanz.
Am 16. Oktober 1998 stimmte der Bundestag mit großer Mehrheit für eine deutsche Beteiligung an Luftangriffen der NATO im Kosovo. Unter dem Eindruck der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und insbesondere des Massakers von Srebrenica an über 8.000 Bosniaken im Juli 1995 fand somit eine Abweichung von der strikten militärischen Selbstbeschränkung statt, die sich seit 1945 im Gebot „Nie wieder Krieg“ begründete. Der Soziologe Michael Schwab-Trapp spricht diesbezüglich von einem Wandel der politischen Kultur des Krieges in der Bundesrepublik.[1] Weitgehend bekannt ist die Neupositionierung der Grünen hinsichtlich militärischer Interventionen, welche deren Fraktionsvorsitzender Joschka Fischer anlässlich des Bosnienkrieges (1992–1995) anstieß. Doch auch in den unterschiedlichen Strömungen der Friedensbewegung erwiesen sich Kriege, Gewaltexzesse und Völkermord im zerfallenden Jugoslawien als eine tiefgreifende Herausforderung für das eigene, auf Gewaltfreiheit bauende Selbstverständnis. Andrea Claaßen widmet sich einer solchen bisher wenig beachteten Gewaltfreiheitsdebatte um die Legitimität militärischer Interventionen in ihrer Studie Gewaltfreiheit und ihre Grenzen. Die friedensethische Debatte in Pax Christi vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges. An der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 2015 als Dissertation angenommen, ist die Arbeit im Frühjahr 2019 in der Schriftenreihe „Studien zur Friedensethik“ erschienen.
Die internen Auseinandersetzungen der deutschen Sektion von Pax Christi, der größten und bedeutendsten internationalen katholischen Friedensbewegung, stehen im Fokus der diskursanalytischen Untersuchung.[2] Den Startpunkt der Pazifismusdebatte markieren Stellungnahmen im August 1995: Unter dem Eindruck von Srebrenica sprachen sich der geschäftsführende Vorstand sowie Generalsekretär Joachim Garstecki für ein militärisches Eingreifen in Extremfällen aus und postulierten gar eine Mitschuld des „kommentarlosen Pazifismus“ gegenüber den Opfern (S. 50–58, zitiert nach: S. 52). Als Endpunkt des Untersuchungszeitraums setzt Claaßen die Absage an humanitäre Interventionen im sogenannten „Hübinger Beschluss“ im November 1996 (S. 14f., S. 82–88). Obwohl dieser die Debatten keinesfalls beendete, wie die Autorin selbst anmerkt (S. 450), findet das Wiederaufflammen der Auseinandersetzungen angesichts einer deutschen militärischen Beteiligung im Kosovo-Konflikt keine analytische Berücksichtigung mehr (S. 446).
Bei ihrer Untersuchung geht Claaßen der Frage nach, „welchen Charakter die Gewaltfreiheitsdebatte“ hatte: War diese maßgeblich ein Streit um die Legitimität militärischer Interventionen („Frage der Sache“)? Handelte es sich um eine Aushandlung des Selbstverständnisses der Bewegung („Frage der Identität“) oder ein Ringen um Machtpositionen und Meinungshoheit innerhalb von Pax Christi („Frage der Macht“)? (S. 16) Entsprechend dieser Dimensionen erfolgt die Analyse in drei Kapiteln auf Grundlage von Quellen aus dem Privatarchiv des ehemaligen Generalsekretärs Garstecki sowie dem Archiv der deutschen Sektion; bewegungsexterne Quellen bleiben außen vor (S. 22, S. 459–477).
Im ersten analytischen Teil arbeitet die Autorin unterschiedliche Argumentationen in der Debatte heraus: Gegner hoben demnach eher auf langfristige Folgen einer Intervention ab. Sie verwiesen auf mögliche Eskalationsdynamiken, welche ein militärisches Eingreifen verursachen könnte, und akzentuierten die drohende Delegitimierung zentraler Bewegungsziele wie Abrüstung und Kriegsdienstverweigerung durch eine Unterstützung militärischer Gewalt (S. 112). Befürworter nahmen hingegen eine eher kurzfristige Perspektive ein: Mit Fokus auf Erleichterungen für Opfer des Konfliktes postulierten sie in der extremen Grenzsituation des Völkermordes eine Verantwortung zur Hilfe, auch mittels Gewalt (S. 108f., S. 119f., S. 139). Während die Mehrheit eine strikt „radikalpazifistische“ Auffassung vertrat und Gewaltfreiheit absolut setzte, plädierte diese Minderheit für einen offenen „Situationspazifismus“, der Gewaltfreiheit eher als Ideal und Richtungsimpuls auffasste (S. 193).
Empfohlene Zitierweise
Johannes Pantenburg: Rezension zu: Claaßen, Andrea: Gewaltfreiheit und ihre Grenzen. Die friedensethische Debatte in Pax Christi vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges. Baden-Baden 2019, in: H-Soz-Kult, 20.02.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28322>.