Nachruf auf Dirk Heinrichs
Mit Trauer und Anteilnahme haben wir vom Tod Dirk Heinrichs erfahren, der am 12. September 2020 im Alter von 95 Jahren verstorben ist. Die Historische Friedens- und Konfliktforschung hat Dirk Heinrichs viel zu verdanken. Dirk Heinrichs war mehr als ein erfolgreicher Unternehmer, Mäzen und Gründer der Friedensstiftung „Die Schwelle“. Er war auch einer der Initiatoren des Vereins „Arbeitskreis Historische Friedensforschung“, der 1984 in Fischerhude bei Bremen gegründet wurde. Bis zu seinem Tod blieb Dirk Heinrichs dem Arbeitskreis als ein wichtiger Gesprächspartner und Impulsgeber verbunden. Seine Stiftung förderte zahlreiche Forschungs- und Publikationsprojekte sowie wissenschaftliche Veranstaltungen des Arbeitskreises und trug damit zur Entwicklung der Historischen Friedens- und Konfliktforschung bei.
Wir verlieren mit Dirk Heinrichs einen herausragenden Friedensforscher. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
Das Sprecher/innen-Team des AKHF
Impulse und Hilfen für die Historische Friedensforschung
Von Wolfram Wette
Wer sich in Deutschland nach den beiden Weltkriegen für eine Umkehr und eine Politik des Friedens engagierte, musste sich notgedrungen mit den Kriegen auseinandersetzen, die zu einer bislang beispiellosen Vernichtung von Menschen, Material und moralischen Wertvorstellungen geführt hatten.* Die Kernfrage lautete: Welche Kräfte waren es, die in der Vergangenheit den Frieden verhindert und stattdessen Kriege entfesselt hatten? Wer zur Aufklärung beitragen wollte, musste auch die gängigen Fluchtbewegungen in die Welt des Irrationalen enttarnen: die Anrufung des Schicksals, die Parolen „Gott mit uns!“ und „Feinde ringsum“, ebenso das Versteckspiel, das die Kriegsursachen ins Dunkel des internationalen Systems schob. Erforderlich war in erster Linie eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Landes, insbesondere mit dem preußisch-deutschen Militarismus und seinen hausgemachten Angriffs- und Eroberungskriegen.
Seit Ende der 1960er Jahre forderte eine nachgewachsene Studentengeneration eine verstärkte politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der schlimmen Vergangenheit des eigenen Landes ein, mit den Kriegen, mit „Auschwitz“, zudem mit „Hiroshima“, dem Kaltem Krieg und der Atomkriegsgefahr. Die Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit wurde verstärkt durch Anstöße aus der Politik. Zum Entsetzen militärischer Traditionalisten sprach der 1969 gewählte Bundespräsident Gustav W. Heinemann (SPD) vom „Ernstfall Frieden“. Die ebenfalls neu ins Amt gekommene sozial-liberale Bundesregierung gab mit ihrer Ost- und Entspannungspolitik ein praktisches Beispiel für die Möglichkeiten, die in dieser neuen Orientierung steckten. Aufgerufen war auch die Wissenschaft, sich mit ihren je spezifischen Fähigkeiten zu beteiligen. So kam es Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik zur staatlichen Förderung der Friedens- und Konfliktforschung.
Auch Historikerinnen und Historiker hörten den Ruf, blieben aber zunächst zögerlich. Erst Jahre später begann der Bremer Historiker Karl Holl damit, ein Netz von Interessierten zu knüpfen und erste Zusammenkünfte zu organisierten. Ideelle und materielle Hilfestellung leistete dabei die von Dirk Heinrichs 1979 in Bremen gegründete Stiftung „die schwelle. Beiträge zur Friedensarbeit“. 1984 schließlich konnten sich die Friedenshistoriker/Innen in Fischerhude bei Bremen mit der Gründung des Vereins „Arbeitskreises Historische Friedensforschung“ (AHF) ein organisatorisches Fundament schaffen. Einige der Kollegen, die an diesem Gründungsakt beteiligt waren, nämlich Detlef Bald, Karl Holl und Reinhold Lütgemeier-Davin, haben in der Festschrift zum 80. Geburtstag von Dirk Heinrichs die Entstehungsgeschichte der Historischen Friedensforschung in Deutschland anschaulich beschrieben und dabei auch an die angenehme Atmosphäre erinnert, in der diese Zusammenarbeit Gestalt annahm. Die von Detlef Bald herausgegebene Jubiläumsschrift erschien als Band 4 der Schriftenreihe „Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung“ (Essen: Klartext 2005). Wer diese Texte heute nachliest, entdeckt einmal mehr die anregende und zugleich auch treibende Rolle, die der Schwelle-Stifter Dirk Heinrichs, ein Weggefährte und Gesinnungsfreund von Gustav W. Heinemann, damals spielte.
Traurig und dankbar haben wir nun vom Tod Dirk Heinrichs erfahren, der am 12. September 2020 verstorben ist. Die Historische Friedens- und Konfliktforschung hat Dirk Heinrichs viel zu verdanken. Dirk Heinrichs verstand sich keineswegs nur als Mäzen. Er beteiligte sich auch selbst an den inhaltlichen Debatten. Aus einigen seiner Anregungen entstanden neue, von seiner Stiftung „die schwelle“ geförderte Forschungsprojekte, die teils innerhalb des AHF, teils eigenständig, aber in Abstimmung mit dem AHF, realisiert wurden. Das erste dieser Projekte hieß „Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871-1933“, dessen Ergebnisse unter eben diesem Titel im Jahre 1999 im Donat Verlag publiziert werden konnten. Helmut Donat und Wolfram Wette dokumentierten hernach das breite Echo auf dieses innovative Buch unter dem Titel „Die widerwillige Aneignung der Geschichte ‚pazifistischer Offiziere in Deutschland 1871-1945‘ in der deutschen Öffentlichkeit“ (Bremen2002). Zwei Jahrzehnte später erlebte das Buch – wiederum mit Unterstützung der „schwelle“ – eine aktualisierte Neuauflage unter dem Titel „Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933 (Bremen: Donat 2020).
Das zweite Forschungsprojekt, das auf eine Anregung von Dirk Heinrichs zurückging und von der „schwelle“ unterstützt wurde, startete mit dem Titel „Empörte, Helfer und Retter aus den Reihen der Wehrmacht 1933-1945“. An den Forschungen beteiligten über Jahre hinweg um die 30 Historikerinnen und Historiker. Die Ergebnisse sind in der renommierten „Schwarzen Reihe“ des Fischer-Verlages als Taschenbücher veröffentlicht worden. Die Titel lauteten: „Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht“(Frankfurt/Main 2002, 3 Auflagen) und „Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS“ (Frankfurt/Main 2004). Diese Bücher wurden breit rezipiert. Einige der erforschten Retter fanden Eingang in die Ständige Ausstellung der Berliner Gedenkstätte „Stille Helden“.
Das dritte Projekt der Historischen Friedensforschung, das die „schwelle“ unter Dirk Heinrichs‘ nicht minder engagiertem Nachfolger Reinhard Jung über einen längeren Zeitraum hinweg förderte, untersuchte die innerdeutsche Kritik an der Wiederbewaffnung nach dem Zweiten Weltkrieg. In zwei stattlichen Bänden wurden die Forschungsergebnisse präsentiert: Der erste trägt den Titel „Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945-1955“ (Essen 2008, als Band 11 der Reihe „Krieg und Frieden“), der zweite hieß „Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955“ (Essen 2010, als Band 17 der Reihe „Frieden und Krieg“).
Auch Einzelpublikationen über herausragende pazifistische Persönlichkeiten förderte die „schwelle“ mit Druckkostenzuschüssen. Hier sind zu nennen: Reinhold Lütgemeier-Davins Buch „Köpfe der Friedensbewegung (1914-1933). Gesehen von dem Pressezeichner Emil Stumpp“ (Essen: Klartext 2016); die von demselben Autor – zusammen mit Kerstin Wolff – herausgegebenen Lebenserinnerungen von Helene Stöcker mit dem Untertitel „Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin“ (Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015), sowie Lothar Wielands Biographie von Hans Georg von Beerfelde, der zu den genannten „pazifistischen Offizieren“ zählt. Dieses Buch erschien unter dem Titel „In drei deutschen Staaten verfolgt – Hans-Georg von Beerfelde (1877-1960) und die gescheiterte Revolution der Wahrheit“ (unter Mitwirkung und mit einem Geleitwort von Helmut Donat, Bremen 2019).
Was die Träger der Stiftung „die schwelle. Beiträge zu Friedensarbeit“ stets mit den Friedenshistoriker/Innen verband und noch verbindet, war und ist die Überzeugung, dass eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit der kriegerischen deutschen Vergangenheit eine wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft darstellt. Sie ist verbunden mit der Hoffnung, dass die Historische Friedensforschung auch zukünftig erfolgreich wissenschaftliches Neuland erobern und sich damit an der Friedensarbeit beteiligen kann, die wir uns immer – eingedenk des geflügelten Wortes von Max Weber – als ein „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“ vorstellen müssen.
Im Namen der Friedenshistorikerinnen und Friedenhistoriker, deren Forschungen von der „schwelle“ inspiriert und gefördert wurden, verbeuge ich mich vor der Lebensleistung Dirk Heinrichs. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.
*Meinen Freunden und Kollegen Detlef Bald, Helmut Donat und Reinhold Lütgemeier-Davin danke ich für ihre Mithilfe beim Verfassen dieses Textes.
Dieser Text entstand als Beitrag für die Festschrift „40 Jahre Friedensstiftung. Jahresbericht 2019“, Bremen 2020, S. 10f. Wir danken Wolfram Wette für die Erlaubnis, ihn leicht gekürzt und aktualisiert an dieser Stelle wiederzugeben.